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Ohne Titel, 2021 | Analoge Collage auf Papier | 21 x 27 cm | Archiv-Nr. 0265 Ohne Titel, 2021
Analoge Collage auf Papier
21 x 27 cm
Archiv-Nr. 0265 Ausstellungsansicht SABINE HERTIG - UNCONDITIONAL Ausstellungsansicht SABINE HERTIG - UNCONDITIONAL Ausstellungsansicht SABINE HERTIG - UNCONDITIONAL Ausstellungsansicht SABINE HERTIG - UNCONDITIONAL Home (Landscape Nr. 17), 2020 | Analoge Collage auf Leinwand | 245 x 185 cm Home (Landscape Nr. 17), 2020
Analoge Collage auf Leinwand
245 x 185 cm Possibilities, 2022 | 12-teilige Serie | Analoge Collage auf Papier | je 28 x 19,5 cm | Archiv-Nr. 0277 Possibilities, 2022
12-teilige Serie
Analoge Collage auf Papier
je 28 x 19,5 cm
Archiv-Nr. 0277 Ausstellungsansicht SABINE HERTIG - UNCONDITIONAL Ausstellungsansicht SABINE HERTIG - UNCONDITIONAL Mirror 10, 2022 | Öl und analoge Collage auf Aludibond | 97 x 143 cm | Archiv-Nr. 0271 Mirror 10, 2022
Öl und analoge Collage auf Aludibond
97 x 143 cm
Archiv-Nr. 0271 Ausstellungsansicht SABINE HERTIG - UNCONDITIONAL Ausstellungsansicht SABINE HERTIG - UNCONDITIONAL Landscape Nr. 19, 2021 | Analoge Collage auf Leinwand, teilweise geschliffen, 3-teilig | 245 x 510 cm Landscape Nr. 19, 2021
Analoge Collage auf Leinwand, teilweise geschliffen, 3-teilig
245 x 510 cm Ausstellungsansicht SABINE HERTIG - UNCONDITIONAL Ausstellungsansicht SABINE HERTIG - UNCONDITIONAL
SABINE HERTIG
UNCONDITIONAL

3. November 2022 – 24. Dezember 2022
 
L’ESPACE DES FRAGMENTS
Text: Sabine Hertig im Gespräch mit Nicolaj van der Meulen
Éditions Actes Sud / Fondation Alfred Latour (2022)
 
Die Publikation erscheint anlässlich der Verleihung des PRIX ALFRED LATOUR DE L’EVEIL 2021 / 2022 an Sabine Hertig.
 
 
Die Collage ist bei Sabine Hertig längst nicht mehr nur materielles Artefakt, sondern zunehmend auch eine Denkform für reflektiertes Sehen sowie eine Handlungsform im Sinne eines ‘entdeckenden Handelns’, das sich vermehrt in neuen Medien und Bildkonstellationen niederschlägt. Im Prinzip Collage zu denken heisst für die Künstlerin, die einzelnen Teile und das Ganze zueinander in Beziehung zu setzen. Es bedeutet aber auch, über das grosse Ganze aus der Sicht eines Details nachzudenken und so unseren Umgang mit Bildern in Frage zu stellen.
Neben neuen malerischen Monumentalcollagen zeigt Sabine Hertig erstmals Werke, in denen sie das Medium der Collage mit dem der Zeichnung verbindet. In ihrem Werkzyklus Room (reflexion) (2022) greift sie dabei auf ihr Zeichnungsarchiv zurück, indem sie reproduzierte Fragmente eigener Zeichnungen wie selbstverständlich mit original gezeichneten Bildpartien kombiniert und so auch die Frage nach dem originalen Kunstwerk zur Diskussion stellt.
Im Wissen, dass ein Bild immer nur ein Ausschnitt eines grösseren Wirklichkeitskomplexes ist und daher nie als etwas Abgeschlossenes gelesen werden kann, integriert Hertig zudem fotografische Reproduktionen eigener Collagen. So sind sie in der Ausstellung im Original präsent und auf der Bildebene ihrer Rooms zugleich als Teilfragment eines neuen Ganzen rezipierbar. Diese Bildräume, die mitunter an fiktive Ausstellungssituationen erinnern, versteht die Künstlerin als heterogene Möglichkeitsräume, in denen alle Raumelemente, von der Architektur bis zum Dekor, in Beziehung zueinander stehen und zwangsläufig doch keine Einheit bilden. Damit sind sie im wahrsten Sinne des Wortes ‘Reflexionsräume’ über den Raum an sich und über die eigenen Medien und Werke, die innerhalb eines künstlerischen Prozesses stets auch im Vergleich zueinander entstehen.
 
Ähnlich grundsätzliche Fragen nach Raum und Fragment im künstlerischen Werk wie in der realen und digitalen Welt stellt Hertig in ihrer 12-teiligen Werkserie Possibilities (2022). Im Sinne einer fragmentarischen Versuchsanordnung, wird uns hier der immer gleiche Raumausschnitt des Pariser Ateliers von Alberto Giacometti (1932 fotografiert vom Fotografen Brassaï) mit dessen prominent im Vordergrund liegenden Studie zur Femme égorgée in immer neuen Bildkompositionen präsentiert. Einmal mehr gelingt es der Künstlerin so, die schier grenzenlosen schöpferischen Möglichkeiten der Collage aufzuzeigen und neue Sehprozesse anzuregen. In einem Spiel von Blickwechseln und vergleichendem Sehen, gilt es hier, deren formale Annäherungen und Kontextverschiebungen visuell und intellektuell zu verorten. Kein leichtes Unterfangen angesichts der überbordenden Bildspannung dieser variationsreichen Bildfindungen.
 
Mit Mirror 8 / 9 / 10 (2020-2022) hat Sabine Hertig ihre ‘Spiegel’-Serie weitergeführt und sich noch einmal mehr der Malerei angenähert. Dies zeigt sich beispielhaft in Mirror 10 mit seinen collageartig gemalten und malerisch geklebten Bildteilen, wobei die ‘gemalte Realität’ hier aus dem collagierten Spiegelbild hervorzutreten scheint. «Mein grundsätzliches Interesse an Spiegelungen besteht darin, dass man sie auf der Bildebene als imaginäre Ebene überschreiten kann. Spiegelungen können grenzenlos an unsere Wirklichkeit anschliessen oder können auch als Rückspiegel dienen. Sie können Dinge, die sich ausserhalb des Bildes befinden, in das Bild zurückspiegeln.» Der Mirror funktioniert bei Hertig somit als Trompe l’oeil und als Übergangs-medium, das die Grenzen zwischen Malerei und Collage aufhebt. 
 
Auch ihren Landscape-Zyklus hat die Künstlerin mit vier bildgewaltigen Monumentalwerken  fortgeschrieben. Als neues künstlerisches Mittel setzt sie nun vermehrt Schleifpapier ein. Das mechanische Abtragen von Bildteilen bzw. -ebenen sieht sie als Möglichkeit, «Teile der Collagen zu in sich geschlossenen Formen zeichnerisch heranwachsen zu lassen, die schliesslich die ‘inhaltliche Haut’ der geklebten Bildteile abstreifen.» Es ist ein Pendeln zwischen Figuration und Abstraktion, das immer stärker auftritt, im künstlerischen Prozess verschwundene Bildschichten wieder freilegt und mitunter in der Bildzerstörung respektive -entleerung endet. Dies sicher auch als Reaktion auf die in ihren grossformatigen Landscapes «immer dicker werdende Schicht aus Bildern (…), die sich zu einem malerischen grossen Ganzen (…), von Bild zu Bild, von Schicht zu Schicht zu Landschaften formieren.»
 
Das Moment der ‘zeichnerischen Geste’ findet sich zudem in Cloud 1 (2022). Fragmentierte, originale Kreidezeichnungen sind hier zu atmosphärischen Bildpartien collagiert. Sie rahmen fotografische Bildfragmente, die im Zentrum zu einer analogen Informationswolke verdichtet sind: «Die Collage ist für mich (…) weit mehr als das tradierte, flache, hartkantige Aneinanderreihen von Bildern. Mit dem Medium Collage kann ich in ganz unterschiedlichen Medien im Prinzip der Collage denken, damit immer wieder neue Wege gehen und ganze Umwelträume hinterfragen.»
 
Ganz im Sinne des Ausstellungstitel UNCONDITIONAL, versteht sich die Künstlerin und ihre Arbeiten folglich als bedingungs- und vorbehaltlos: in der Wahl ihrer Werkformate und künst-lerischen Medien, im Umgang mit klassischen Gattungsgrenzen und tradierten Raumkonzepten wie in der Auffassung von Original und Reproduktion. Alles kann, nichts muss – im künstlerischen Prozess wie in der Rezeption ihrer Werke.
 
Letzteres zeigt sich auch im Dialog mit dem Musiker Fritz Hauser, aus dem zwei Collagen und ein Audioguide zur Ausstellung entstanden sind. Während die Toncollage The sound of art die physischen Arbeitsprozesse im Atelier der Künstlerin akustisch erfahrbar macht (in der Ausstellung abrufbar über einen QR-Code), hat bei Untitled 01 / 02 das Bild den Ton und der Ton das Bild inspiriert. Die Bildbetrachtung wird so gleichsam zum Klangerlebnis.
 
Künstlerzitate aus: Sabine Hertig. L’Espace des fragments (2022)